Kapitel 2
Sie glitt immer wieder zwischen wirren Träumen und dem Wachsein hin und her. Wo sie sich befand oder ob sie das alles nur träumte – diese Unterscheidung war ihr längst nicht mehr möglich. Manchmal sah sie einen Oktopus neben sich, dann verschwamm die Welt erneut. Die Stimme ihrer Mutter flüsterte ihr inmitten all dessen Unverständliches zu. So träumte Ignis von ihrem Zuhause, das sie schon vor langer Zeit verloren hatte, von einem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, und von einem Namen, der ihr nicht mehr zustand.
Zitternd erwachte sie auf einem Bett aus Moos. Schmerzvoll setzte sie sich auf, und im schwachen Licht der Amethystknospen wirkte ihre Haut aschfahl. Mit den Daumen massierte sie ihre Schläfen und sah sich genauer um. Ignis befand sich in einer Amethystgeode, einem kleinen Biotop mit Moos, Blumen und einem Wasserfall in der Mitte. „Wo ... wie?“, murmelte sie, ihre Kehle trocken wie Papier. Es dauerte noch einige Minuten, bis die Meerjungfrau ihre Erinnerungen wieder zusammengesetzt hatte. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war der Strand und das Gefühl, innerlich zu zerfließen.
Rechts von ihr platschte es laut, und ein bunter Kopf erschien hinter dem Wasserfall. „Oh ja, du bist wach! Wir warten schon alle gespannt – eine echte Bewohnerin aus der Tiefsee! Ich will alles über die Tiefsee wissen und …“, sprudelte es aus dem Wesen heraus. Es dauerte einen Moment, bis Ignis begriff, dass der Kopf zu einem kleinen, bunt gefärbten Oktopus gehörte. „Oh, zu viel?“, fragte er nach einer Weile und schaute sie mit großen Augen an. Ignis nickte nur. „Komm an die Oberfläche, wenn du bereit bist“, sagte er, bevor der bunte Fleck den Wasserfall hinauf schwebte und verschwand.
Also war sie tatsächlich noch im Norden, in der Bucht. Noch etwas wackelig auf den Beinen schwamm sie den Wasserfall hinauf, nur um sich schließlich wirklich in der Bucht wiederzufinden. Vorsichtig steckte sie den Kopf aus dem Wasser. Das Wasser erstreckte sich vor ihr, und nach längerer Suche fand sie ihr Hausboot, das am Strand festgemacht war. Eine Woge der Vertrautheit überkam sie, als sie das Boot betrat. Zuerst überprüfte sie, ob alles noch da war, und blickte dann zum Strand hinüber.
Die Häuser standen noch, jedoch ohne Fensterscheiben, und am Strand führte eine Schneise bis zu den Häusern, beginnend genau dort, wo sie zuletzt gekniet hatte. „Oh“, entfuhr es ihr. Das hätte eigentlich unmöglich sein sollen. Wie war das nur passiert?
Ignis setzte sich auf die Bohlen ihres Bootes. Dieser Anblick könnte bedeuten, dass sie vielleicht ihre Kräfte zurückerlangt hatte. Sie streckte eine Hand über das Wasser, atmete tief durch und konzentrierte sich auf die Bewegung der Wellen, das Plätschern und Rauschen. Stundenlang passierte nichts – bis sich schließlich ein winziger Tropfen von der Wasseroberfläche löste und in ihre Handfläche schwebte. Nur ein Tropfen, aber es war mehr, als sie seit Jahrzehnten hatte bewegen können.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie wieder erwachte. Blinzelnd stellte Ignis fest, dass sie auf ihrem Boot lag – offenbar hatte sie der Versuch, Magie zu wirken, jeglicher Kraft beraubt. Ausgesprochen fröhlich stemmte sie sich auf die Füße und ging ins Bett.
Die nächsten Tage verbrachte sie damit, die Bewohner der Bucht kennenzulernen und sich gründlicher umzusehen. Sie nahm sich aus den leeren Häusern, was sie brauchte, um ihr kleines Hausboot wieder aufzustocken und auszubauen. Offenbar verstanden sich die Bewohner der Bucht nicht mit den Dorfbewohnern, da diese die Schätze der Bucht an Land brachten. Nach langem Hin und Her machte Ignis beiden Parteien ein Angebot. Sie war sich zunächst nicht bewusst, dass dieses Angebot sie zur Baronin eines kleinen Landes machen würde. Mit der Hilfe vieler Bewohner – mit Händen, Flossen und Tentakeln – baute sich Stück für Stück ein kleines Reich auf.
Stück für Stück begradigte sie die Schneise zu einer klaren Fläche. So groß der Fortschritt in ihrem neuen Reich auch war, so wenig Fortschritte machte sie mit ihrer Magie. Frustriert warf Ignis einen Stein in den kleinen Teich am Strand. Wenn sie ihre magischen Fähigkeiten nicht bald verbessern konnte, bestand die Gefahr, dass es erneut zu einer unkontrollierten Entladung kam. Ihre Rasse war schließlich nicht für Magie geschaffen; jene, die sie dennoch besaßen, hatten sie nie vollständig kontrollieren können.
Gerade als Ignis sich fragte, warum Magie für sie greifbarer schien als für andere, riss das Horn eines Bootes sie aus ihren Gedanken. Es war ihre erste Einladung zu einem Fürstenhof.