Die Nacht im dunklen Wald
Mitkael erwachte mit einem Keuchen. Der Traum hielt ihn noch immer gefangen, seine Brust hob und senkte sich schnell, und sein Herz schlug heftig. Der Dämon, das Feuer, die Dunkelheit – all das fühlte sich so real an, dass es ihm schwerfiel, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Die Höhle war still, bis auf das ferne Tropfen von Wasser. Der Mond schien durch einen schmalen Spalt im Gestein und ließ die Umgebung in einem fahlen Licht baden. Seine Gedanken waren ein Durcheinander, und das Bedürfnis nach frischer Luft war überwältigend. Er musste hier raus.
Mit leisen Schritten zog er sich seine Schuhe an und schlich hinaus, die anderen wollten nicht gestört werden. Die Kühle der Nacht empfing ihn, und der Duft von Moos und feuchter Erde beruhigte ihn ein wenig.
Mitkael rannte. Die Dunkelheit des Waldes umarmte ihn, doch sie konnte die Bilder seines Traums nicht verdrängen. Der brennende Thronsaal, die drohenden Worte des Dämons, die schmerzvolle Erinnerung an Fenric – all das nagte an ihm, zog ihn in eine Spirale aus Zweifel und Schmerz.
Er wusste nicht, wie lange er schon lief, als ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken riss. Ein leises Knacken, das sich in der Stille der Nacht wie ein Donnerschlag anfühlte. Mitkael blieb abrupt stehen, sein Atem ging schwer, und sein Blick huschte durch die Schatten.
Dann sah er ihn. Kaelen stand dort, halb verborgen im Mondlicht. Sein Gesicht war hart, und seine Augen – sie waren kalt. Eiskalt. Der Blick eines Mannes, der keine Skrupel hatte, der etwas Dunkles in sich trug. Mitkael fröstelte, als er in diese Kälte sah, und für einen Moment fragte er sich, ob er Kaelen jemals wirklich gekannt hatte.
„Kaelen?“ fragte er vorsichtig, seine Stimme zitterte leicht.
Kaelen hob den Kopf, und der harte Ausdruck in seinen Augen blieb bestehen – nur für einen Herzschlag. Dann, als er Mitkael wirklich erkannte, als sich ihre Blicke trafen, veränderte sich etwas. Die Kälte schmolz dahin, und Mitkael sah wieder den Kaelen, den er kannte. Jenen, der ihn auf dieser Reise begleitet hatte, der ihn beschützte.
Mitkaels Blick fiel auf die blutverschmierten Hände und die Schatten in Kaelens Gesicht.
„Ein Spion“, sagte Kaelen knapp, bevor Mitkael fragen konnte. „Er hat uns beobachtet. Ich konnte es nicht riskieren, dass er zurückkehrt und berichtet.“
Mitkael nickte langsam. Er hatte die Antwort geahnt, aber das machte es nicht leichter. „Du hattest keine Wahl“, murmelte er.
Kaelen schüttelte kaum merklich den Kopf, sein Blick blieb ernst. „Es fühlt sich trotzdem falsch an.“
Die Worte hingen schwer in der Luft. Mitkael suchte nach etwas zu sagen, etwas, das die Last, die sie beide spürten, erleichtern konnte, aber alles schien bedeutungslos. Schließlich brach Kaelen die Stille.
„Du solltest zurückkommen, Mitkael. Es wird kalt.“
Mitkael schüttelte den Kopf. „Ich bleibe noch ein wenig. Ich brauche... Zeit.“
Kaelen zögerte, bevor er nickte. „Pass auf dich auf.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück zur Höhle.
Mitkael blieb allein. Der Wald war still, abgesehen vom Rascheln der Blätter im leichten Nachtwind. Er ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und zog die Taschenuhr aus seiner Tasche.
Das silberne Gehäuse glänzte matt im Mondlicht, und Mitkael strich mit den Fingern über die filigranen Verzierungen. Es war das einzige, was er noch von Fenric hatte – ein Teil seiner Vergangenheit, das ihm nichts über sich selbst verriet.
Er öffnete die Uhr. Das leise Klicken klang in der Stille beinahe wie ein Donnerhall. Die Zeiger bewegten sich stetig, ein stiller Zeuge der Zeit, die an ihm vorbeizog, während er stehen geblieben war.
„Wer warst du, Fenric?“ flüsterte Mitkael, seine Stimme bebte. „Was hast du für mich geopfert?“
Die Erinnerung an Fenric war wie ein Schatten – greifbar und doch unerreichbar. Er fühlte die Liebe, die Fenric für ihn empfunden hatte, tief in seinem Inneren, doch es war wie ein Echo, das aus einer anderen Welt zu ihm drang.
„Ich sollte mich erinnern“, sagte er leise zu sich selbst. „Ich sollte wissen, wer du warst, wer ich war...“
Mitkael schloss die Uhr und legte sie in seine Hände, die Finger fest darum geschlossen, als könnte er durch sie Antworten erzwingen. Aber da war nur Stille – keine Erinnerungen, keine Gewissheit.
Er hob den Blick zum Himmel, wo die Sterne wie scharfe Splitter in der Dunkelheit funkelten. „Wie soll ich all das tragen?“ flüsterte er. „Wie soll ich ein Prinz sein, wenn ich mich nicht einmal an mein Volk erinnere?“
Die Stille antwortete nicht, und Mitkael ließ den Kopf sinken. Die Last seiner verlorenen Erinnerungen, seiner Verpflichtungen und seiner Gefühle für Fenric war erdrückend.
Doch irgendwo, tief in ihm, spürte er, dass er nicht aufgeben durfte. Fenric hatte sein Leben für ihn geopfert, und Kaelen tat alles, um ihn zu schützen. Er konnte nicht einfach zerbrechen – nicht jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand.
Mit einem schweren Seufzen stand er auf. Die Uhr steckte er zurück in seine Tasche, und er wandte sich in Richtung der Höhle.
Er war nicht bereit, sich seinen Dämonen zu stellen, aber er wusste, dass er es irgendwann tun musste.
Und bis dahin blieb ihm nur, Schritt für Schritt weiterzugehen.
Im Büro des ältesten die zweite
Das erste Licht des Morgens fiel in die Höhle, ein fahler Schein, der durch schmale Öffnungen in den Wänden drang und das Dunkel nur zögerlich vertrieb. Mitkael öffnete die Augen, blinzelnd gegen die sanfte Helligkeit. Die Erinnerungen an die letzte Nacht waren noch frisch, doch er wusste, dass er sich der Gegenwart stellen musste.
Er setzte sich auf, seine Bewegungen vorsichtig. Die Höhle war ungewohnt – kalt, feucht und irgendwie drückend. Mit einem leisen Seufzen zog er sich an, befestigte die Taschenuhr an seinem Gürtel und sammelte sich kurz, bevor er die kleine Kammer verließ.
Die Gänge der Höhle waren fremd und labyrinthartig, und Mitkael konnte die Richtung nur erahnen. Er war erst seit einem Tag hier und hatte die Umgebung kaum erkundet. Sein Gang war langsam, und er war gezwungen, an einigen Abzweigungen stehen zu bleiben, um sich zu orientieren.
Manchmal hörte er leises Murmeln oder Schritte, die in der Ferne verklangen. Es half ihm, die allgemeine Richtung zu bestimmen, aber die Ungewissheit nagte an ihm. Schließlich begegnete er einer jungen Frau, die einen Korb trug. Sie sah ihn neugierig an, aber bevor sie etwas sagen konnte, fragte er:
„Wo finde ich den Ältesten? Ich... bin etwas verloren.“
Die Frau deutete mit einem Kopfnicken auf einen Gang, der weiter rechts abzweigte. „Folgt diesem Weg, es ist nicht mehr weit.“
Mit einem dankbaren Nicken setzte Mitkael seinen Weg fort, wobei er darauf achtete, sich die Abzweigung zu merken. Schließlich erreichte er den breiteren Gang, der zur Kammer des Ältesten führte. Hier war der Boden glatter, abgenutzt von unzähligen Schritten, und die Luft fühlte sich schwerer an.
Er blieb kurz vor der Tür stehen, atmete tief durch und sammelte sich. Als er die Kammer betrat, sah er sie bereits dort stehen. Der Älteste, eine gebeugte Gestalt mit silbergrauen Haaren, saß hinter einem niedrigen Tisch, dessen Oberfläche von seltsamen Symbolen und Schriftrollen bedeckt war. Kaelen stand daneben, die Arme verschränkt, sein Blick aufmerksam.
Mitkaels Blick begegnete Kaelens, und für einen Moment sah er die Schatten der Nacht wieder in seinen Augen – jene Kälte, die er gesehen hatte, bevor sie verschwunden war. Doch jetzt lag etwas anderes in Kaelens Miene, etwas Wachsamkeit und eine Spur von Sorge.
„Ihr seid spät“, sagte der Älteste, seine Stimme ruhig, aber durchdringend.
Mitkael schüttelte leicht den Kopf, zog die Tür hinter sich zu und trat näher. „Verzeihung, ich... hatte einiges, worüber ich nachdenken musste.“
Der Älteste nickte langsam, als ob er mehr verstand, als Mitkael preisgab. „Das Ritual, das du suchst, ist kein einfaches Unterfangen, Mitkael. Es wird Antworten geben – doch sie könnten dich ebenso belasten wie erleuchten.“
Mitkael schluckte schwer und warf einen Blick zu Kaelen, der wortlos blieb, ihm aber ein fast unmerkliches Nicken gab. Es war genug, um ihm ein wenig Mut zu geben.
„Ich muss es wissen“, sagte Mitkael schließlich, seine Stimme entschlossen, auch wenn sie leise war. „Wenn ich die Last eines Prinzen tragen soll, wenn ich mein Volk schützen soll, dann brauche ich diese Antworten.“
Der Älteste musterte ihn lange, sein Blick wie ein Gewicht auf Mitkaels Schultern. Dann lehnte er sich zurück, faltete die Hände vor sich und sprach: „Dann lasst uns keine Zeit verschwenden. Es gibt viel vorzubereiten, und die Zeit wartet auf niemanden – nicht einmal auf ihre eigenen Nachfolger.“
Das Licht in der Höhle flackerte, als die magischen Glyphen auf dem Boden des Ritualkreises langsam zu leuchten begannen. Der Raum war erfüllt von einer unheimlichen Stille, die nur durch das Knistern der Energie unterbrochen wurde, die sich um Mitkael und Kaelen sammelte.
Der Älteste stand am Rand des Kreises, seine Stimme tief und beschwörend, während er die letzten Worte der Beschwörungsformel sprach. „Möge der Nachfolger des Engels der Zeit seine Bürde erkennen und möge die Wahrheit sich offenbaren.“
Mitkael und Kaelen saßen im Zentrum des Kreises, ihre Knie fast einander berührend. Mitkaels Hände lagen auf seinen Oberschenkeln, doch er spürte, wie sie zitterten. Die Taschenuhr, die er bei sich trug, begann plötzlich schwer zu werden, als ob sie auf das Ritual reagierte. Kaelens Blick war fest, sein Gesicht von einer konzentrierten Ruhe gezeichnet, doch in seinen Augen lag eine Spur von Unsicherheit, die er nicht zeigen wollte.
„Bist du bereit?“ fragte Kaelen leise, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.Mitkael nickte, obwohl sein Herz wild in seiner Brust pochte. „So bereit, wie ich sein kann.“
Die Energie um sie herum wuchs, ein sanftes Brummen, das sich langsam zu einem dröhnenden Crescendo steigerte. Die Glyphen auf dem Boden leuchteten in einem tiefen Goldton, und plötzlich fühlte es sich an, als würde der Boden unter ihnen nachgeben. Mitkael spürte, wie sein Körper schwer wurde, und für einen Moment schien die Welt um ihn herum zu zerbrechen.
Dann war da nur noch Dunkelheit.
Als Mitkael die Augen öffnete, war die Höhle verschwunden. Stattdessen fand er sich in einer seltsamen, nebulösen Landschaft wieder. Alles um ihn herum war in dichten, grauen Nebel gehüllt, der wie lebendig schien, sich bewegte und wogte, als wäre er selbst ein Wesen. Der Boden unter seinen Füßen war fest, doch er konnte keine Struktur erkennen, als ob er auf einer unsichtbaren Ebene stand.
„Kaelen?“ rief Mitkael, seine Stimme hallte auf seltsame Weise.
„Ich bin hier.“ Kaelens Stimme kam von rechts, und als Mitkael sich drehte, sah er ihn, nur wenige Schritte entfernt. Kaelens Haltung war angespannt, seine Augen durchdrangen den Nebel, als suchten sie nach einer unsichtbaren Bedrohung.
„Wo sind wir?“ fragte Mitkael, während er sich näher an Kaelen stellte.
Kaelen schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber ich bezweifle, dass wir allein sind.“
Kaum hatte er die Worte gesprochen, begann sich der Nebel vor ihnen zu verdichten. Die schwachen Schatten, die zuvor ungreifbar schienen, nahmen plötzlich eine Form an. Eine dunkle Silhouette, groß und bedrohlich, tauchte aus dem Nichts auf.
Der Nebel um sie herum lichtete sich, und aus der dichten, grauen Masse trat eine schlanke, hochgewachsene Gestalt hervor. Zwei elegant geschwungene Hörner krönten sein Haupt, und seine goldenen Augen schienen wie kleine Sonnen in der trüben Umgebung zu leuchten. Razareths Bewegungen waren geschmeidig, fast katzenhaft, während er näher trat. Sein Auftreten strahlte eine gefährliche Eleganz aus, die sowohl faszinierend als auch beunruhigend war.
Kaelen spannte sich sofort an, und seine Hand wanderte instinktiv zum Griff seines Schwertes. Doch Razareth schien dies nicht zu bemerken – oder er ignorierte es absichtlich. Stattdessen wanderte sein Blick über Kaelen, und ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Nun, nun,“ sagte Razareth, seine Stimme tief und schmeichelnd. „Was haben wir denn hier? So viel Zorn und Misstrauen in einem so schönen Gesicht.“
Mitkael spürte die Spannung zwischen den beiden und räusperte sich, um Razareths Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wer bist du?“ fragte er mit ruhiger, aber fester Stimme.
Razareth wandte sich ihm zu, und sein Lächeln wurde weicher. „Ah, der Prinz von Arkadon,“ sagte er, als hätte er es schon immer gewusst. „Ich bin Razareth, der Wächter der Zeit.“
Kaelen schnaubte verächtlich. „Ein Wächter? Du bist ein Dämon. Die Wächter waren reine Wesen, keine Kreaturen der Dunkelheit wie du.“
Razareths goldene Augen glitzerten amüsiert. „Ach, die alten Vorurteile,“ sagte er und hob eine Hand in einer theatralischen Geste. „Wie erfrischend, sie wiederzuhören. Aber du irrst dich, mein schöner Krieger. Die Wächter wurden nicht nach ihrer Rasse oder ihrer Reinheit ausgewählt, sondern nach ihrer Stärke und ihrem Willen. Engel, Menschen und Dämonen – alle drei Rassen haben Wächter hervorgebracht. Ich bin der lebende Beweis dafür.“
Kaelen ballte die Fäuste, doch Mitkael trat einen Schritt nach vorne und stellte eine Frage, bevor die Spannung eskalieren konnte. „Wenn du wirklich der Wächter der Zeit bist, warum bist du hier? Und warum wurden wir zu dir gebracht?“
Razareths Blick ruhte kurz auf Mitkael, bevor er sich wieder Kaelen zuwandte, als könne er nicht widerstehen. „Immer so ernst, ihr Sterblichen,“ sagte er mit einem Seufzen. „Aber gut. Ich werde euch erklären, warum ihr hier seid.“
Er trat einen Schritt zurück, und der Nebel schien sich um ihn zu winden, als wäre er ein Teil von ihm. „Der Nachfolger meiner Macht ist bereits ausgewählt,“ erklärte Razareth. „Doch er kann nicht erwachen. Sein Geist ist gebunden – an ein Artefakt.“
„Gebunden?“ fragte Mitkael.
Razareth nickte langsam, seine Haltung wieder ernst. „Ja. Eine alte, grausame Magie hält ihn gefangen. Und um ihn zu befreien, muss ein anderes Artefakt zerstört werden – eines, das mit seiner Bindung verknüpft ist. Doch Vorsicht: Dieses Artefakt wird bewacht. Nicht von einem Dämon wie mir, sondern von etwas viel Gefährlicherem.“
Kaelen verschränkte die Arme und musterte Razareth skeptisch. „Warum erzählst du uns das? Wenn du wirklich ein Wächter bist, warum löst du das Problem nicht selbst?“
Razareth senkte kurz den Blick, und in seinen goldenen Augen schien ein Funken Trauer auf. „Lange Zeit war ich gefangen in meiner eigenen Trauer,“ sagte er ruhig, und seine Stimme trug einen schweren Klang. „Die Gefahr kam leise, beinahe unmerklich. Und als sie schließlich vor mir stand, war es bereits zu spät, um zu handeln. Der Dämon, der das Artefakt in seinem Besitz trägt, ist nicht wie andere. Durch das Artefakt ist er immun gegen meine Macht.“
Kaelen kniff die Augen zusammen. „Also bist du hilflos?“
Razareth hob eine Hand, als wollte er das Wort „hilflos“ abwehren. „Hilflos? Nein, das wäre zu einfach. Aber ja, ich kann nicht eingreifen, solange das Artefakt in seinen Händen liegt. Die Magie des Artefakts schützt ihn, macht ihn gegen meine Fähigkeiten und meine Magie unempfindlich.“
„Das Artefakt...“ Razareths Stimme war sanft, fast hypnotisch, doch sie trug eine Schärfe in sich, die nicht überhört werden konnte. „Es befindet sich in Arkadon, Prinz Mitkael. In der Heimat deiner Vorfahren, an einem Ort, der tief in deiner Geschichte verankert ist.“
Mitkael spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. Arkadon. Der Name fühlte sich fremd und zugleich vertraut an, wie ein verlorenes Lied, dessen Melodie er fast erkennen konnte.
„Aber,“ fuhr Razareth fort, „bevor du auch nur daran denken kannst, das Artefakt zu erreichen, musst du dich deiner Vergangenheit stellen. Es gibt keine andere Möglichkeit, keine Abkürzungen. Du wirst nach Selvanor gehen müssen, Prinz. Dort liegt der Schlüssel – oder besser gesagt, die Krone.“
Mitkaels Kehle wurde trocken. „Die Krone des Königs Thalamor?“ Seine Stimme klang brüchig, als die Worte seine Lippen verließen.
Razareth nickte, und in seinen gelben Augen funkelte ein rätselhaftes Leuchten. „Ja. Die Krone, ein Symbol des alten Verrats und des vergessenen Königtums. Sie muss zerstört werden, um dich von den Ketten der Vergangenheit zu befreien. Nur dann wirst du stark genug sein, um Arkadon und das Artefakt zu erreichen.“
Mitkael öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch er fand keine Worte. Der Gedanke, sich seiner Vergangenheit zu stellen – einer Vergangenheit, die ihm wie ein düsteres Geheimnis erschien – erfüllte ihn mit einem Unbehagen, das schwer zu ignorieren war.
Razareth trat einen Schritt näher, sein Blick eindringlich. „Es wird nicht leicht sein. Doch wahre Stärke zeigt sich nicht im Kampf, sondern in der Fähigkeit, das Richtige zu tun, auch wenn es gegen alles geht, was du bist. Das ist es, was dich zu einem Anführer macht, Mitkael.“
Er hielt inne, sein Blick glitt zu Kaelen, der regungslos und angespannt in der Dunkelheit stand. Ein schmales, vieldeutiges Lächeln umspielte Razareths Lippen. „Wie bei deinem Kriegerfreund hier. Er tat, was notwendig war, nicht wahr? Einen feindlichen Spion zu foltern, obwohl es gegen seine Natur ging. Solch... Entschlossenheit finde ich äußerst anziehend.“
Kaelen hielt Razareths Blick stand, doch Mitkael konnte die Anspannung in seinen Schultern sehen, das stumme Zucken seines Kiefers.
Razareth wandte sich wieder Mitkael zu. „Gehe nach Selvanor. Finde die Krone, zerstöre sie, und stelle dich der Wahrheit, die dich dort erwartet. Nur dann wirst du deinen Weg nach Arkadon ebnen können.“
Der Nebel begann sich zu verdichten, Razareths Gestalt verblasste allmählich. Doch bevor er verschwand, neigte er leicht den Kopf und sprach mit einer Stimme, die sich wie ein Flüstern in Mitkaels Geist brannte: „Wir werden uns wiedersehen, Prinz. Und vielleicht, wenn die Zeit reif ist, wird sich zeigen, ob du wirklich derjenige bist, für den Fenric sein Leben geopfert hat.“
Mitkaels Herz setzte aus, als Razareth den Namen aussprach – Fenric. Ein Name, der wie ein Echo durch seinen Verstand hallte und eine Flut von Erinnerungen, Bildern und Gefühlen in ihm auslöste. Sein Atem beschleunigte sich, und in seinen Gedanken schossen tausend Fragen auf:
Woher weiß Razareth von Fenric? Was hat er mit ihm zu tun? Hat Fenric ihm etwas hinterlassen?
Seine Lippen öffneten sich, bereit, die erste Frage hervorzustoßen, doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, trat Razareth näher. Der Dämon hob langsam eine Hand und legte einen kalten, langen Finger auf Mitkaels Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
„Nicht jetzt, Prinz Mitkael,“ sagte Razareth leise, seine Stimme ein dunkles Wispern, das durch die Nacht glitt. „Mit der Zeit kommt auch das Wissen. Doch jetzt... bist du nicht bereit.“
Mitkael spürte, wie der Kloß in seiner Kehle wuchs, wie die Fragen, die ihn fast überwältigten, ihm den Atem nahmen. Doch Razareths Blick ließ keinen Raum für Widerworte. Es war, als ob der Dämon seine Gedanken las, als ob er genau wusste, was Mitkael sagen wollte – und ihn bewusst daran hinderte.
Der Nebel begann, Razareths Gestalt zu verschlucken, seine Umrisse wurden undeutlich. Doch bevor er endgültig verschwand, sprach er noch einmal, seine Stimme kaum mehr als ein Windhauch:
„Geduld, Prinz. Alles, was du suchst, wird sich dir offenbaren, wenn die Zeit reif ist.“
Und dann war er weg.
Mitkael blieb zurück, der Nachhall des Namens Fenric in seinem Geist dröhnend. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er in die Leere starrte, wo Razareth gestanden hatte. Die Unruhe in ihm war fast unerträglich, und doch konnte er nichts tun.
Nur warten. Warten auf Antworten, die ihm die Zeit bringen würde. Doch die Last dieser Geduld fühlte sich an wie ein weiterer Fluch.