Das Chaos.
Sie verschwand einfach. Erst sagte Lyktras Zwillingsschwester, Nightrin, den Tod ihres Gottes und Vaters, vorher, dann verschwand sie spurlos.
Als die Vorhersage von Rin sich erfüllte und Lyktra ihren toten Vater auf dem Totenbett anschaute, kam ihr für den Bruchteil einer Sekunde der Gedanke, dass sie Rin für ihre Fähigkeit hasste. Sofort bereute sie es. Sie war einfach so überfordert mit allem, denn jetzt war sie es, die sich um das Chaos, das durch den Tod von Cadoc entstand, kümmern musste.
Nur noch Strage war an ihrer Seite geblieben. Alle anderen, die sie je gekannt und geliebt hatte, waren bereits tot. Ermordet. Der Verlust ihrer Familie gab ihr das Gefühl ihr Herz würde zerreißen. Besonders der Gedanke an ihre Schwester schmerzte. Sie fehlte ihr so unendlich.
Lyktra konnte bisher immer auf sie zählen und mir ihren weisen Ratschlägen, die sie stets und ständig hatte. Damit nervte sie manchmal fast schon. Doch jetzt konnte sie sie nicht um Rat fragen, ging es ihr durch den Kopf, während sie und Strage in den Überresten des Palasts versuchten ihre Kräfte zu sammeln. Ich werde das alles hier überleben und dich eines Tages finden. Das verspreche ich dir.
Der plötzliche, mysteriöse Tod der mächtigsten Existenz dieser Dimension hatte eine tiefe Wunde in Yuciren gerissen, die nicht wieder heilen konnte. Lyktra und Strage hatten dennoch mit aller Kraft, die sie sie aufbringen konnten, versucht dagegen anzukämpfen. Vergeblich. Böse, längst vergessene Wesen der Dunkelheit überrannten alles, was ihnen in die Quere kam. Töteten und verschlangen all jene, die sich ihnen nicht unterwerfen wollten. Je weiter sich die Dunkelheit ausbreitete, desto schlimmer wurden die Auseinandersetzungen der Völker darüber, wie man dieses Böse besiegen könnte. Kriege waren die Folge der Uneinigkeit, und keiner vertraute dem anderen. Wie konnte es nur so weit kommen?
Ihr Vater Cadoc hatte Rin und sie immer gelehrt, das alles Leben wertvoll sei und erschuf eine Dimension in vollständigem Frieden. Was nach seinem Tod zurück blieb war einfach nur schrecklich. Es war das reinste Chaos. Trotzdem hatten Lyktra und Strage es sich zur Aufgabe gemacht das Vermächtnis von Cadoc zu bewahren, wieder herzustellen und wieder Frieden zu schaffen. Lyktra musste es einfach versuchen, egal wie aussichtlos es schien. Doch der nicht enden wollende Kampf gegen die Schatten und die vielen Kriege zehrte an ihren Kräften und verlangte alles von den beiden ab. Je schwächer sie wurden, desto mehr Macht erhielten die Schatten. Am Ende ihrer Kräfte angelangt, völlig erschöpft und in die Enge getrieben, hatten die beiden letztendlich keine andere Wahl mehr. Sie beschlossen aus Yuciren zu fliehen. Zu diesem Zeitpunkt war sowieso nichts mehr übrig, für das es sich noch zu kämpfen gelohnt hätte.
Zurückgezogen in den Überresten des Palasts von Cadoc, dem noch einzigen sicheren Hafen dieser Dimension, saßen Lyktra und Strage nach Atem ringend auf den Trümmern. Schließlich fragte Lyktra mit zittriger Stimme „Wir machen das hier sicher?“, und blickte dabei in Strages Augen, während sie seine Hände fest umklammert hielt. „Ja, ganz sicher.“ antwortete Strage mit ruhiger, fester Stimme. Lyktra war immer wieder fasziniert davon, wie er sich niemals aus der Fassung bringen ließ, egal wie nervenaufreibend eine Situation sein konnte. Es machte ihr Mut und nun sagte auch sie mit fester Stimme „Okay, und wir werden es auch schaffen.“ Und Rin finden, fügte sie in Gedanken hinzu. Lyktra und Strage erhoben sich und schlossen ihre Augen. Sie begannen leise eine Beschwörungsformel zu murmeln. Schweißtropfen brachen ihnen auf der Stirn aus und beide fingen vor Anstrengung an zu zittern. Zwischen ihnen erschien langsam ein kleines, strahlend weißes Licht, welches stetig heller und größer wurde. Es umschloss die beiden bald, wie ein Schutzschild. In Lyktra begann wieder eine verloren geglaubte Hoffnung aufzusteigen. Genau in diesem Moment brachen die ersten Schatten durch die Tore des Thronsaals. Ein wabernder Nebel aus Dunkelheit versuchte das Lichtschild, welches von Lyktra und Strage ausging, zu verschlingen. Immer wieder prallten die Schattenwesen wie tollwütige Tiere dagegen und ließen den Boden unter den beiden Wesen beben. Aus der tiefen Dunkelheit starrten leuchtend rote Augen, erfüllt von Hass und Zorn, auf die beiden herab. Mit dem immer dichter schließenden Nebel, wuchs das Gefühl in Präsenz des Bösen zu sein. Lyktra kniff ihre Augen fester zusammen, bloß nicht ablenken lassen, schoss es ihr durch den Kopf. Das Gemurmel der beiden wurde immer lauter, fast so, als wollten sie mit ihren Stimmen gegen die Bedrohung ankämpfen. Und dann plötzlich: Stille. Schlagartig implodierte das Lichtschild ins Nichts mitsamt Lyktra und Strage darin und die Schatten verschlangen wie kämpfende Raubtiere nun auch das Letzte Bisschen von Yuciren, das bis eben noch übrig gewesen war.
…
In einer klaren Nacht durchfuhr ein greller Blitz die Dunkelheit, schmetterte Funken über den Boden eines kargen, toten Landes. Zwei umnachtete Gestalten erschienen aus dem Nebel und dem Rauch, den der Blitz hinterlassen hatte