Reden ist Silber,...
Rin saß auf einer kalten Steinstufe, ihre Hände ruhten verkrampft in den Falten ihres Rocks. Jeder noch so leise Laut ließ sie aufhorchen, ihr Körper war angespannt, als würde ihr Innerstes bereits ahnen, was auf sie zukam.
"Sie werden noch eine Weile brauchen, bis sie hier sind, Lady Rin,“ ertönte eine tiefe, vertraute Stimme aus dem Halbdunkel. Sofort griff Rin an ihre Augenbinde, als wolle sie sich vergewissern, dass sie noch festsaß. Der Stoff war warm von der Magie, die in ihn eingewoben war – ein Schutz, eine Barriere gegen das, was sie sonst unweigerlich sehen würde.
"Edgar…“, hauchte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Windhauch. Sie spürte die Bewegung neben sich, dann legte sich eine sanfte, aber feste Hand auf ihre Schulter. Seine Wärme drang durch den Stoff, doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Ihr Herz schlug zu heftig, ihre Gedanken waren ein einziger Wirbelsturm aus Angst, Schuld und der bitteren Gewissheit dessen, was geschehen würde.
Langsam ließ sie ihre eigene Hand auf sein Knie sinken, suchte nach Halt in diesem Moment der inneren Zerrissenheit. "Du hast so oft gesehen, wie Menschen Entscheidungen treffen, die sie eigentlich nicht wollten, zum Wohl der Allgemeinheit. es in ihren Gesichtern, in ihren Bewegungen. Und jetzt… Jetzt bin ich es, die ihnen die Wahl nimmt.“ Ihre Finger krallten sich in den groben Stoff seiner Hose, als könne sie sich daran festhalten, als könne sie damit verhindern, dass ihr eigener Entschluss sie endgültig fortreißt.
Edgar schwieg einen Moment, als wäre er seine Worte sorgfältig ab. "Ich weiß…“, sagte er schließlich, seine Stimme ruhig, fast beruhigend. "Irgendwann werden sie es verstehen.“
Rin schüttelte den Kopf. "Nein…“ Ihre Stimme brach, und sie spürte, wie die ersten Tränen drohten, ihre Fassade zu durchbrechen. "Ich kenne sie. Ich habe so viele ihrer Entscheidungen miterlebt. Ich weiß, wie sie fühlen, wie sie sprechen, wie sie handeln. Sie werden mich nicht verstehen. Sie werden mich dafür hassen. Und es wird sie zerbrechen.“ Ihre Brust hob und senkte sich schwer. Ihr Herz schlug so hart gegen ihre Rippen, dass es wehtat. Sie wusste, was passieren würde. Sie wusste es genau. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als es aufhalten zu können.
Edgar kniete sich vor sie, sein Blick – auch wenn sie ihn nicht sehen konnte – war warm und fest. "Rin… Ich kenne sie genauso gut wie du. Und ja, sie werden Narben davontragen. Aber Narben sind nicht das Ende. Sie heilen.“
Für einen Moment schwieg sie, dann spürte sie, wie er sich leicht vorbeugte und sie kurz in die Arme schloss – eine letzte Geste des Trostes. Doch der Moment währte nicht lange. Dann erhob er sich wieder. "Wachen! Schützt Lady Rin! Ein weißer Rabe hat mir zugeflüstert, dass unsere zukünftigen und alten Ratsmitglieder nicht glücklich sein werden.“
Die in lila gekleideten Wachen zogen sich zusammen, bildeten eine Kette um den großen Ratssaal. Rin erhob sich langsam, ihre Bewegungen schwer, als würde sie das Gewicht ihrer eigenen Entscheidung auf ihren Schultern tragen. Mit der Hilfe einer Wache ließ sie sich auf ihren Ratsstuhl sinken, ihre Hände umklammerten den Rand des runden Tisches.
Und dann…
"DA IST SIE!“, brüllte eine wütende, raue Stimme.
Rin zuckte nicht zusammen. Sie wusste, wer es war. Kan.
Schwere Schritte erklangen auf der Steintreppe, das Klirren von Metall, das Aufprallen von Stiefeln auf den Stein. Sie kamen, so wie sie es vorausgesehen hatte. Dann hörte sie das scharfe Klirren von Speerspitzen, als die Wachen die Gruppe aufhielten.
"Lass uns durch! Ich bin ein Ratsmitglied!“, brüllte Yoshi. Ihre Stimme bebte, trug Wut, Enttäuschung, Verrat in sich. Sie hatte heute Freunde sterben sehen – und in ihren Augen war Rin daran schuld.
Rin atmete tief ein, dann sprach sie mit ruhiger, fester Stimme: "Sie schützen uns… auch voreinander.“
Die Stille, die folgte, war schwer wie ein drohendes Gewitter.
Und Rin wusste, dass dieser Moment alles verändern würde.
"Es waren Kinder anwesend…“
Die sanfte, leise Stimme durchschnitt die aufgeheizte Luft im Raum wie ein Dolch, der blau-gelbe Drache. Ihre Stimme ein leises Wimmern ähnlich kam aus der Gruppe der wütenden Stimmen, und Rin senkte ihren Kopf, bis ihre Stirn fast den Tisch berührte. Sie musste stark bleiben. Ihr Körper bebte nicht, doch ihr Inneres war ein Sturm aus Schuld, Angst und unnachgiebiger Entschlossenheit.
Sie wusste, dass es hart für die Adligen sein würde. Sie alle waren nicht bereit gewesen. Sie hatten sich an eine Welt geklammert, voller Sicherheit, die es längst nicht mehr gab. Und die Ältesten unter ihnen – die, die in ihrer Macht erstarrt waren – waren dem Norden längst ein Dorn im Auge. Doch das durfte niemand wissen. Niemals.
"Habe ich das nicht erwähnt?“, fragte Rin leise, und vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild, das sie vor nicht einmal zwei Monden hatte: Tote. So viele Tote. Trauernde Familien, verbrannte Banner, Blut auf weißem Marmor. Morgen würde ganz Avalon in Schwarz gehüllt sein.
"Ihr wolltet sie vernichten.“ Die Worte verließen ihre Lippen wie ein Urteilsspruch. Die Stille danach war schwer, greifbar. Rin hörte den kollektiven Atemstocken der Versammelten, spürte die Schockwelle, die durch sie fuhr.
Jemand trat näher. Das harte Kratzen von Krallen auf Stein durchbrach die erstarrte Stille – Luna.
"Habt ihr das nicht erreicht?“, fragte Rin, ihre Stimme ruhig, aber unerschütterlich. Sie wusste, was sie getan hatte. Sie wusste, dass sie die Fürstenreiche manipuliert hatte, dass sie den Krieg gelenkt hatte wie eine Marionettenspielerin. Es war notwendig gewesen. Es musste Opfer geben.
"Sie sind tot–“, ein wütendes Schnaufen unterbrach Lunas Worte. Ein tiefes, bedrohliches Geräusch aus der Kehle der Seherin.
"Und ich bin nicht die Böse hier.“
Die Lüge schmeckte bitter auf ihrer Zunge. Vielleicht würde sie in den Chroniken dieser Welt als die Böse aufgeführt werden. Vielleicht würde die Wahrheit verdreht, ihre Rolle ins Gegenteil gekehrt. Vielleicht… vielleicht war sie wirklich die Böse.
"Du hast gesagt–“ "IHR WOLLTET MACHT!“
Die Worte zerrissen die Luft, Rin schrie. Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut, Schmerz und Verzweiflung. Ihre sonst so ruhige Miene war verzerrt von Emotionen, ihre Augenbrauen zu scharfen Falten geformt, ihr Gesicht eine Maske aus Hass – oder war es Selbsthass?
Sie wollte es nicht hören. Sie wollte es nicht sehen. Und doch sah sie es jeden Tag.
„Alle wollen immer nur Macht–“
Rins Stimme klang kalt, beinahe emotionslos, doch sie wusste es besser. Sie wusste, dass nicht alle von Machtgier getrieben waren, dass viele in diesem Raum nicht für Ruhm oder Herrschaft gekämpft hatten. Doch sie durfte jetzt nicht schwach werden. Sie musste diese Fassade aufrechterhalten.
„WIR WOLLTEN WISSEN!“
Lunas wütender Schrei durchschnitt die Luft wie ein Speer. Ihre Stimme war voller Verzweiflung, voller Enttäuschung.
Rin erinnerte sich. Sie hatte Luna versprochen, ihr Wissen zu beschaffen, Erkenntnisse, die ihr und ihrer Zukunft helfen würden. Sie hatte nicht gelogen. Aber sie wusste auch, dass Luna es jetzt noch nicht verstehen konnte.
Rin schloss kurz die Augen, ein einziger Atemzug, dann flüsterte sie, unbeeindruckt von Lunas Wut:
„…Und am Ende habt ihr Blut an den Händen.“
Sie hörte das erstickte Wimmern des Drachenwesens. So viel Verzweiflung, so viel Leid. Luna hatte sicher gute Leute verloren, geschätzte Freunde. Doch sie war nicht die Einzige. Jeder, der an diesem Tag auf dem Schlachtfeld stand, hatte Opfer bringen müssen. Jeder hatte verloren.
„Meine Leute wollte ich retten…“
Lunas Stimme war gebrochen. Rin konnte sich gut vorstellen, dass die einst so glühend smaragdgrünen Augen nun von Tränen gerötet waren.
Ein plötzlicher Schlag hallte durch den Raum. Die steinerne Tischplatte vibrierte unter der Wucht. Rin spürte die Spannung in der Luft, spürte die Blicke auf sich gerichtet. Langsam, fast mechanisch, erhob sie sich von ihrem Platz. Sie wollte nicht, dass sie ihre verzweifelte Miene sahen. Sie wollte nicht, dass ihre Maske fiel.
„Rik sagte–“
„Rik?“
Gatames Worte wurden von Rins unterbrechender Stimme durchbohrt. Ihr Herz schlug einen Moment schneller. Sie hatte den Golem nicht in ihren Visionen gesehen. Sie hatte ihn nicht geschickt. Warum war er dort gewesen? Ging es ihm gut?
„Er sagte, man kann sich auf dich verlassen.“
Gatames Stimme knurrte die Worte hervor, als würde er kaum glauben, dass er sie selbst aussprach.
Rin erstarrte.
Vertrauen? Wie konnte er ihr vertrauen? Sie tat vieles für Rik, ja. Sie hatte seine Zukunft deutlicher gesehen als viele andere. Doch sie waren nicht mehr als zwei bekannte Seelen, die sich auf demselben Schachbrett bewegten. Warum legte er seine hölzerne Hand für sie ins Feuer?
„Hat er?“
Ihre Stimme klang fern, als wäre sie in einer Erinnerung gefangen. Sie dachte an das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Sein Fluch war abgeschwächt, sein Körper näher an dem Menschen, der er einst gewesen war. Sie hatte sich für ihn gefreut. Rik war jemand, der diesen Krieg zu einem guten Ende führen könnte.
Aber wollte sie wirklich sehen, wie sein Leben in diesen Krieg schwindet? Rin atmete tief durch. Ihre Stimme war ruhig, fast sanft, als sie weitersprach:
„Ich sagte doch, ihr müsst zahlen.“
Ihre Worte waren leise, doch sie hallten durch den großen Saal.
„Alles, was ich euch gesagt habe, ist eingetreten, oder?“
Die Antwort lag in der drückenden Stille, die folgte. Kein Widerspruch. Sie wussten es. Sie alle wussten es. Rin hatte ihnen die Wahrheit gesagt. Doch die Wahrheit war grausam.
Gatame war es, der die Stille durchbrach. Seine Stimme grollte durch den Ratssaal, vibrierte in den alten Säulen des Pavillons.
„DU BIST EIN MONSTER!“, Die Worte schnitten tief. Rin zuckte nicht einmal zusammen.
Sie hatte es kommen sehen. Sie hatte es kommen fühlen.
Gatame kannte sie. Er kannte sie seit Jahren, seit sie im selben Rat saßen. Doch er erkannte sie nicht mehr. Vielleicht hatte er es nie getan. Er war am Ende, genau wie sie, nur eine weitere Spielkarte im Kartenhaus des Nordens.
„Du siehst nur, was du sehen willst. Alles hat Konsequenzen… alles hat seinen Preis.“
Rin drehte sich langsam um, ihre verhüllten Augen auf die Menge gerichtet. Sie konnte ihre Blicke nicht sehen, aber sie spürte sie. Die Kälte, das Zittern in der Luft. Sie spürte, wie sich die Nackenhaare aufstellten, wie das Gewicht ihrer Urteile schwer auf ihr lastete.
Entsetzen. Angst. Wut.
Sie kannte diese Blicke, hatte sie unzählige Male in ihren Visionen gesehen – ein drohender Schatten, der sich immer näher schlich, bis er schließlich Wirklichkeit wurde.
Und nun stand sie hier. Sie sah es in ihnen, in jedem Atemzug, in jeder stummen Verurteilung. Sie sah, dass sie sie als das betrachteten, was Gatame ausgesprochen hatte.
Ein Monster.
Vielleicht war sie das auch. Vielleicht war das der Preis für ihre Gabe. Doch die Wahrheit?
Nicht einmal sie wusste es mehr. Ein bitteres Lächeln zuckte über ihre Lippen, als eine neue Stimme durch die angespannte Stille schnitt.
„Und du wähltest das Leben als Zahlung? Wer bist du? Der Tod?“ Lunas Stimme bebte vor unterdrückter Wut, ihr Zorn loderte wie ein unbändiges Feuer, das keinen Halt kannte. Und Rin spürte es auch in den anderen. Sie suchten nach einem Schuldigen.
Jemanden, den sie verurteilen konnten. Jemanden, den sie hassen durften.
Die Luft schien schwer zu werden, und für einen Moment zog sich Rins Herz schmerzhaft zusammen. Ein unangenehmes, fast vertrautes Gefühl kroch durch ihre Adern – ein Echo all der Lasten, die sie trug. Also war es das? Der Moment, in dem sie sich entscheiden musste? Ihr Schicksal war besiegelt. Dann würden sie bekommen, was sie wollten.
Langsam, mit einer fast unheimlichen Eleganz, trat ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen. Sie beugte sich leicht vor – nicht in Unterwerfung, sondern mit der theatralischen Anmut einer Schauspielerin, die ihren letzten Akt beherrschte.
Eine Verbeugung, die so falsch war, dass sie fast echt wirkte. Ein Spiel, das nur sie zu verstehen schien.
"An manchen Tagen", murmelte sie, ihre Stimme samtig, durchtränkt von etwas, das weder Bedauern noch Angst kannte.
Dann richtete sie sich auf, ihre Haltung aufrecht, ihr Blick – verborgen hinter den Stoffbahnen – durchdringender als je zuvor.
"Heute nicht."
Ein Schauer ging durch die Menge. Rin hörte das Entsetzen in ihren Atemzügen, das leise Raunen, das sich ausbreitete wie ein Sturm vor dem Gewitter.
Es lief aus dem Ruder. Mehr, als sie es ursprünglich geplant hatte. Doch nun gab es kein Zurück mehr.